Yannick spannt die Armbrust. Er setzt die Schutzbrille auf, legt den spitzen Pfeil ein und zielt auf den Ballon am Ende des Zimmers. Sehr lange kann der 13-Jährige nicht stehen und die Armbrust in der Luft halten. Die Leukämie und die Chemotherapie haben ihn geschwächt. Aber heute holt er im Kinderzentrum Bethel zum Gegenschlag gegen die Krankheit aus. Auf symbolische Weise. Er macht kaputt, was ihn kaputt macht.
Ende Mai 2017 wurde bei dem Bielefelder Jungen eine akute lymphatische Leukämie diagnostiziert. Die Krankheit gehört zu den häufigsten Krebserkrankungen bei Kindern, im Kinderzentrum des Evangelischen Klinikums Bethel (EvKB) sind es jährlich 20 bis 25 junge Patienten, die Yannicks Schicksal teilen. „Bei mir hatte der Hausarzt erst Asthma vermutet, aber dann wurden Lymphome am Hals entdeckt“, erinnert sich Yannick.
Seitdem begann der harte Kampf gegen die Krankheit. Die Chemotherapie schlägt an, aber bringt auch Nebenwirkungen mit sich. Yannick gehen die Haare aus, seine Mundschleimhaut ist entzündet, so schmerzhaft, dass Yannick für drei Wochen keine feste Nahrung zu sich nehmen kann und stärkste Schmerzmittel bekommt. „Aber er ist immer tapfer“, sagt Rodrigo Barros. Er und seine Kollegin Lea Buschsieweke sind Ergotherapeuten in der Kinderonkologie und unterstützen Yannick bei seiner Aktion. Heute soll ein Infusomat dran glauben. Mit einer Kettenreaktion zum Gesundwerden.
„Die ständigen lauten Alarme nerven mich am meisten, vor allem in der Nacht, wenn ich schlafen will“, sagt Yannick, und blickt auf das Gerät, das ihn 24 Stunden am Tag begleitet und mit Medikamenten versorgt. Ist eine Infusion beendet, schlägt das Gerät Alarm. „So wichtig der Infusomat auch ist, er erinnert einen leider in jedem Moment daran, dass man krank ist“, sagt Dr. Norbert Jorch, leitender Arzt der Kinderonkologie am EvKB. Er befürwortet den ungewöhnlichen Ansatz, der Teil der Ergotherapie ist. „So eine Aktion kann total helfen, aus dem tiefen Loch herauszukommen und sich Luft zu machen“, erklärt Jorch. „Leukämie verursacht Frust, und den muss man ablassen.“
Als Yannick mit der Idee zu ihm kam, war Rodrigo Barros begeistert „Wir machen das Ungewöhnliche möglich“, sagt Barros. Er fragte bei der Haustechnik nach, ob es ein ausrangiertes Gerät gibt, dass Yannick symbolisch zerstören könne. „So eine Anfrage hatten die in 25 Jahren nicht, aber wir haben ein Gerät gefunden.“ Doch Yannick will nicht einfach draufhauen. Er hat eine gut durchdachte Kettenreaktion aufgebaut. Mit der Armbrust will er einen Ballon zum Platzen bringen. An diesem ist eine Schnur gespannt, die einen mit Nadeln versehenen Knetball zum Fallen bringt. Der lässt einen weiteren Ballon platzen, bis schließlich ein vier Kilo schwerer Stein auf das Gerät niedersausen soll.
„Die Leukämie ist gewissermaßen auch eine Kettenreaktion“, erklärt Jorch. Einzelne leukämische Zellen befinden sich bei jedem Menschen im Körper. Meistens werden sie vom Immunsystem eliminiert. „Aber manche Menschen haben leider einfach Pech“, sagt Jorch. Dann vermehren sich die Zellen unkontrolliert immer weiter. Die Leukämie ist lebensbedrohlich, doch bei rechtzeitiger Behandlung stehen die Heilungschancen gut. 90 Prozent der Kinder gesunden.
Yannick legt an. Zielt. Trifft. Alles geht rasend schnell. Der Stein fällt von der Decke und sprengt das Gerät auf. Yannick nickt zufrieden. „Das fühlt sich an wie ein Racheakt!“, sagt er und lächelt. Es geht aufwärts. Heute darf er erstmals für einen längeren Zeitraum über die Feiertage und Neujahr nach Hause.